von Peter Hollo
Immer häufiger kommt mir die visionäre Faith Popcorn in den Sinn, deren Buch wir aufstrebenden Marketingleute 1991 verschlungen haben. Der Frau mit dem stechenden Blick und dem messerscharfen Verstand gelang vor 30 Jahren etwas, was nur Wenigen vergönnt ist. Eine nahezu punktgenaue Voraussage für die nächsten Jahrzehnte. Unter anderem geprägt hat sie auch den Begriff des Cocooning.
Cocooning, also die Tendenz sich vermehrt aus der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit in das häusliche Privatleben zurückzuziehen, ist für mich der Metatrend, der zu einer Vielzahl von wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen geführt hat und noch führen wird.
Was sich so kuschelig anhört wie eine warme Decke, wie Hühnersuppe riecht und sich wie Mama anfühlt hat zu einer ganzen Reihe von Verwerfungen und Wahrnehmungsstörungen geführt. Denn solch ein Kokon ist nicht nur Schutz, sondern auch eine Abgrenzung nach außen. Zwar nicht verantwortlich für diesen Trend, aber dennoch sein wichtigster Beschleuniger: das Netz.
Noch nie zuvor war es so einfach sich in seine eigene kleine heile Welt zurückzuziehen und jede Form der Kommunikation und Interaktion durch vorgeblich selbstbestimmte Schleusen zu regulieren. Und zwar die Ein- und Ausgänge.
Peter Hollo
Wir haben es uns zu Hause gemütlich gemacht. Was die Home & Living Branche und alle, die davon partizipieren, noch ganz bestimmt weitere zehn Jahre glücklich machen wird, verändert nicht nur das Individuum. Es verändert gesamte Gesellschaften. In Zeiten des New Biedermeier kommen nämlich auch all die “alten Werte” bürgerlicher Wohlanständigkeit wieder zurück. Engstirnigkeit, Kleingeistigkeit, Bigotterie und die Durchsetzung des einen wahren Weltbilds – nämlich des eigenen – feiern fröhliche Urständ.
Der Spießbürger kommt heute schon lange nicht mehr alleine aus dem tendenziell rechten Milieu, sondern er oder sie fährt heute auch gerne mal mit dem Lastenfahrrad zur Umweltdemo oder zieht sich nach der Yoga-Stunde einen entspannenden Fattie rein, während die selbstverständlich ungeimpften Kinder ohne elterliche Gängelung ihren freien Charakter entwickeln.
Wenn ich mir Filme und Zeitschriften aus den 1970ern und 80ern anschaue, dann denke ich mir immer wieder “Mann, waren die befreit …und wie verkniffen sind wir heute”. Hat meine Jugendgeneration – und vor allem die davor – noch dafür gekämpft Dinge sagen und tun zu können, so scheint es mir manchmal, heute ist´s genau andersrum.
Linksspießer, Rechtsspießer, Öko- und Esospießer, alle haben eines gemein: Ein enormes Sendungsbewusstsein, missionarischen Eifer und den unerbittlichen Vernichtungswillen, was den jeweiligen Gegner angeht …und den rechten Glauben. Da kann es doch keinen mehr wundern, dass genau diese Mischung derzeit gemeinsam auf die Straße geht. Warum? Weil sie allesamt Kinder des gleichen Geistes sind. Eines autoritären, zutiefst radikalen und egozentrischen Weltbildes, das andere Meinungen nicht nur vollkommen ausblendet, sondern gar nicht mehr zulässt.
Kommt zu dieser Entwicklung noch ein weltweites Ereignis hinzu, welches diesen Trend zur Vereinzelung nicht nur fördert, sondern Individuen in die Isolation treibt und gleichzeitig Urängste weckt, dann ist der Tipping Point erreicht. Mit Covid-19, dem Trend zum Cocooning und dem Internet ist der perfekte Sturm entstanden. Im Fast Forward wurden Entwicklungen für Jahre auf wenige Monate komprimiert.
Cocooning, neben all dem kuschelig plüschigen, geht auch immer ganz automatisch einher mit einem Verlust an Weltoffenheit. Mit dem Verlust von wechselseitiger unredigierbarer ungefilterter roher Kommunikation und Interaktion. Gegenwind findet immer seltener bis gar nicht mehr statt. Wen kann es also wundern, dass sich die jeweilige weltanschauliche Gruppe in ihrer Blase immer weiter radikalisiert? Ist sie vorgeblich doch im Recht, da (gefühlt) niemand einer anderen Meinung ist. Und ist man im Besitz der einen Wahrheit, die alle vertreten, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Hexenjagd.
Der ganze Irrsinn geht heute soweit, dass ein politisches Onlinemagazin, das sich vornehmlich an eine junge Zielgruppe richtet, „Achtung Triggerwarnung“ vor jeden noch so minimal kontroversen Artikel schreibt. Aus lauter Angst und vorauseilendem Gehorsam, der Leserschaft kontroverses lieber vorenthält, als sie zum Diskurs zu animieren. Tabus nicht bricht, sondern institutionalisiert.
Es geht derzeit um nicht weniger als den Verlust unserer Freiheit. Denn es ist schon ein ganz erheblicher Unterschied, ob wir uns ins Private zurückziehen, weil wir das so wollen. Oder weil selbsternannte Sitten- und Moralwächter uns dazu zwingen. Relativ kleine, aber besonders aggressive und laute, gesellschaftliche Gruppen, die getrieben von medialer Aufmerksamkeit und dem Diktat der jeweiligen medialen Sales-Abteilung aus finanziellem Kalkül gerne gehypt werden.
Überall im Land lodern gerade die Scheiterhaufen, nur heißen sie heute anders. In anglophiler Eloquenz nennen wir sie Shitstorms. Scheiterhaufen lodern immer gerne in Zeitenwenden. Immer dann, wenn die Welt komplizierter wird. Sie zunehmend als feindselig und undurchschaubar wahrgenommen wird. Zusammenhänge nicht mehr verstanden werden und Menschen sich zunehmend als Objekte fühlen, Mächten ausgeliefert, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Von Kontrollverlust und Ohnmacht sind es dann nur noch wenige Schritte hin zum Glauben an finstere Mächte, die das eigene Leben bestimmen. Wenn man Studien glauben darf, dann glauben etwa 30% der Deutschen an Verschwörungstheorien. Eine erschreckend hohe Zahl.
Nach Jahrzehnten der (Gedanken-)Freiheit schwingt das Pendel gerade in eine andere Richtung. Aufzuhalten ist es nicht mehr. Denn auf jede Bewegung erfolgt auch immer ausnahmslos und zwingend eine Gegenbewegung. Was wir allerdings beeinflussen können ist, wie weit das Pendel in die andere Richtung schwingt. Zeit, dass sich so manche(r) endlich aus der Deckung wagt.
Es geht um nicht weniger als um unsere Freiheit.